Sauerstoff

Einer der stärksten Reibungspunkte in den Debatten über die Kubafrage sind die Restriktionen, die unserer Insel von der Regierung der Vereinigten Staaten auferlegt wurden. Ob man zu einer Lockerung oder zur Verschärfung dieser Restriktionen neigt – mit allen denkbaren Nuancen – das ist das übliche Unterscheidungsmerkmal, das verfeindete Parteien erzeugt: im Exil, bei der innerstaatlichen Opposition und in der Kubapolitik der meisten Länder.

Zu den meistgehörten Argumenten der Verschärfungsanhänger gehört die Metapher, wonach  jegliches Anzeichen von Lockerung bekämpft wird mit der Behauptung, dies bedeute eine Sauerstoffzufuhr für das Regime.

Seit einigen Tagen ist ein Brief an den Kongress der Vereinigten Staaten[1]  im Umlauf, der von einer repräsentativen Auswahl der kubanischen Zivilgesellschaft unterzeichnet ist, und in dem dafür plädiert wird, den Verkauf von Lebensmitteln an Kuba stärker zu erleichtern und nordamerikanischen Touristen den Besuch unseres Landes zu erlauben.

Wie zu erwarten löste das Dokument den Zorn der Hardliner aus. Ich behaupte nicht, diesbezüglich unparteiisch zu sein, unter anderem, weil ich selbst einer der 74 Unterzeichner bin, und weil in diesem Land meine ganze Familie lebt: meine Mutter, meine Schwester, meine Kinder, meine Frau, meine Enkelinnen und eine enorme Zahl von Neffen und Nichten.

So schwierig die Lage auch werden mag, niemand von ihnen wird auf die Straße gehen, um eine gesellschaftliche Auseinandersetzung anzuführen, und umso weniger, wenn ihnen das Hauptargument fehlt, dass nämlich in erster Line staatliches Unvermögen verantwortlich ist für ihre Entbehrungen. Solange es eine Blockade gibt, die beschuldigt werden kann, solange es die geringste staatliche Beschränkung für potenzielle Unternehmer gibt, wird die Schuld bei dem Imperialismus liegen, vor allem,  wenn in unseren Gefilden kein einziger Gringo auftaucht, der uns erlauben würde, sein satanisches Wesen zu überprüfen.

In unserem Aquarium fehlt der Sauerstoff, und wer sich dagegen wehrt ihn zuzuführen, ist sich nicht darüber im Klaren, dass diejenigen, die er vorgeblich strafen möchte, Sauerstoffbehälter auf dem Rücken tragen oder Schnorchel in ihren Mündern. Sie wissen nicht, dass diese Privilegierten das Monopol haben auf alles, was einatembar scheint, und dass sie es in der Warteschlange der politisch Korrekten verteilen je nach deren Verdiensten.

Sie scheinen nicht zu wissen, dass unsere Rechte ausgerechnet im Namen der Erstickungsgefahr geraubt worden sind.  Obendrein und im Widerspruch zu ihrer eigenen Logik vergessen sie, dass eine sauerstoffreiche Atmosphäre das Feuer und die Explosion begünstigt.

Reinaldo Escobar, La Habana, 12.06.10

Übersetzung: Heidrun Wessel

Artikel aus http://www.desdecuba.com/reinaldoescobar/

[1] Spanisch: http://democracyinamericas.org/pdfs/Carta_a_Congresistas_de_EU.pdf Englisch:http://www.cubastudygroup.org/index.cfm?FuseAction=PressReleases.Detail&PressRelease_id=7601&Month=6&Year=2010