Der Marsch des Generals

Die Rede, die General Raúl Castro dieses Jahr am 26 Juli hielt, brachte – im Vergleich zu seiner Rede am selben Datum des Vorjahres – für viele eine große Enttäuschung. Es gibt dafür folgende Gründe:

Die Vorjahresrede äußerte sich kritisch über die kubanische Realität und identifizierte sich mit den Problemen der Bevölkerung. Zur Lösung dieser Probleme, sagte der General, seien strukturelle und konzeptionelle Veränderungen erforderlich. Auch, dass der Arbeitslohn nicht ausreiche für die Grundbedürfnisse der Arbeiter und deshalb kein Arbeitsanreiz mehr sei, und auf internationaler Ebene reichte er der künftigen US-amerikanischen Regierung einen Ölzweig, mit dem Ziel besserer Beziehungen. Die jüngste Rede folgte einem ähnlichen Schema wie alle während der Revolutionsgeschichte: es wurden künftige Schwierigkeiten wegen internationaler Krisen angesprochen, es wurde darauf hingewiesen, dass die Bevölkerung sich nicht daran gewöhnen dürfe, immer nur gute Nachrichten zu erhalten, und es wurde klar gestellt, dass Kuba, unabhängig von Wahlausgang in den USA, weiterhin an seinen Verteidigungsanstrengungen festhalte.

Die meisten Analysten der Lage in Kuba sehen, nachdem sie beide Reden gelesen haben, einen forschen Tritt auf die Bremse; jedoch sind sie unterschiedlicher Meinung über dessen Ursachen Ein Argumente ist, dass tatsächlich die internationale Lage, nämlich die Preise für Öl und Lebensmittel sowie die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in den Industrieländern die Entscheidung der Regierung dahin beeinflusst habe, die Öffnung nach außen zurückhaltender zu betreiben. Als Beispiel werden andere Länder angeführt, die in schwierigen Zeiten ihr Reformtempo verringerten und dem Staat z.B. mehr Kontrollbefugnisse einräumten, um damit zu verhindern, dass die internationale Krise auf ihre innenpolitischen Fortschritte übergreift.

Meiner Ansicht nach geht die oben dargestellte Theorie davon aus, dass Kuba mit anderen Ländern vergleichbar sei, die sich reformiert haben. Aber in Kuba herrschen ganz andere Verhältnisse als in Vietnam oder in Malaysia am Ende der achtziger Jahre. Der kubanische Staat hat das absolute Außenhandelsmonopol. Ausländisches Kapital wurde vor allem in die Bereiche Tourismus, Bergbau und Ölförderung gelenkt, und es gibt keine größeren Verflechtungen mit den übrigen Wirtschaftszweigen. Die Landwirtschaft befindet sich überwiegend in der Hand von Staatsunternehmen oder von Kooperativen, und die Bauern bauen das an, was der Staat anordnet – unabhängig vom Inlands- oder gar dem Auslandsmarkt. Wenn die Preise für Brennstoff und Lebensmittel weiter steigen und der Tourismus weiter zurückgeht, dann könnte man diesen Übeln nicht besser begegnen als durch Reformen zur Steigerung der Lebensmittelproduktion, bis hin zu deren Export, sowie durch die Produktion anderer Güter als Ersatz von Importen. Reformen zur Steigerung von Effizienz und Produktivität in der Industrie, der Landwirtschaft und besonders im Tourismusbereich, um sie wettbewerbsfähig zu machen. Andere erklären den Reformstopp damit, dass der General unter den Einfluss des „Big Brother“ geraten sei.

Grundlage dieser Theorie ist die gesteigerte Aktivität des Máximo Líder bei der Verbreitung seiner Überlegungen[1] in den letzten Monaten. Vor allem deshalb, weil viele davon im Gegensatz zu den anfänglichen, sich auf Entscheidungen und Verlautbarungen der Regierung beziehen und diese kritisieren. Ein Beispiel dafür ist die „Reflexión„, in der er erklärt, dass er niemals Vereinbarungen über die Menschenrechte mit der UNO unterschreiben wollte – nachdem diese von der kubanischen Regierung unterzeichnet worden waren. Oder die andere, in der er die Europäische Union des Zynismus und der Verlogenheit anklagt, weil sie die Sanktionen gegen Kuba aufgehoben hatte – während die Regierung ihre Wohlgefallen über den Beschluss der EU erklärte. Dies nur, um die wichtigsten ihrer Sorte zu benennen. Es gibt keinen Zweifel, dass Raúl Castro den Kranken weder absichtlich noch unabsichtlich reizen will. Dessen aktueller Einfluss zeigt sich in seinen Interventionen und durchaus auch in seinen Handlungen. Es stellt sich nun die Frageob dieser Einfluss die ganze oder nur teilweise die Ursache für den Rückzug ist.
 

Möglicherweise wurden die Worte des Generals über die erforderlichen „strukturellen und konzeptionellen Veränderungen“ falsch ausgelegt. Manche haben diese Beteuerung als Absicht verstanden, das Land zu reformieren, obwohl dieser Ausdruck niemals von der Führungsriege  in den Mund genommen worden war. Allgemein wurde vermutet, dass die angesprochenen Veränderungen darauf gerichtet sein würden, die dringendsten Probleme zu lösen, wie die Ernährung, das Transportwesen und den Wohnungsmarkt. Dafür werde notfalls auf Marktmechanismen zurückgegriffen, mit dem Ziel, die Unproduktivität des Landes zu durchbrechen. Das war den Gerüchten zu entnehmen, die in der Bevölkerung über derartige Maßnahmen umliefen, die jedoch niemals in die Praxis umgesetzt wurden.

 Taten sagen fast immer mehr als Worte. Deshalb werden wir nachfolgend die „guten Nachrichten“ über Produktionssteigerungen untersuchen.

 Seit der vorläufigen  Machtübertragung gab es bis jetzt die wahrscheinlich größten Fortschritte auf dem Gebiet des Transportwesens. Planmäßig sollen auf lange Sicht zusätzlich 5.000 Busse und 1.000 Lokomotiven aus China eingesetzt werden. Mit dem Iran wurden Verträge über Lokomotiven abgeschlossen, und es wurde eine Milliarde Dollar bereitgestellt für die Instandsetzung von Bahngleisen, Straßen und Autobahnen. Im Stadtgebiet von Havanna sind schon erste Ergebnisse dieses Projekts zu sehen, die rd. 450.000 Fahrgäste pro Tag haben sich von 2006 bis jetzt verdoppelt (Cubanalisis).

 Auf dem Wohnungsmarkt ist kein Fortschritt zu erkennen. Das Gerücht, der Verkauf von Immobilien solle wieder zugelassen werden, ist nur ein Gerücht geblieben. Für das laufende Jahr sieht ein bescheidener Plan den Bau von 50 Tausend Wohnungen vor (Quelle: Mesa Lago, sofern keine andere aufgeführt wird) aber das Wohnungsdefizit wird auf eine Million geschätzt. Die Anzahl der Wohnungen pro Tausend Einwohner betrug 6,1 im Jahr 1989 (Jahr des Beginns der Krise wegen der Auflösung des sozialistischen Lagers) und beträgt im Jahr 2007 nur 4,5.

 Mit der Verordnung Nr. 9 des Ministeriums für Arbeit und Soziales vom 2. Februar wurde festgelegt, dass die Arbeitslöhne sich nach den erzielten Arbeitsergebnissen ausrichten sollten. Und die frühere Begrenzung von Gehältern wurde ebenfalls aufgehoben. Diese Maßnahmen stehen im krassen Gegensatz zu der jahrelangen bevorzugten Praxis, mit der materielle Interessen von der Produktion abgekoppelt werden sollten. In diesem Sinne wurden auch die staatlichen Aufkaufpreise für Agrarprodukte, Fleisch und Milch erhöht.

 Ohne die Bedeutung einer Verknüpfung von Einkommen und Produktion bestreiten zu wollen, ist es unter den gegenwärtigen Umständen recht fraglich, ob es gelingt, mit Lohnerhöhungen die Grundbedürfnisse der Familien ausreichend zu decken. Nehmen wir als Beispiel die Umsetzung des Perfeccionamiento Empresarial [2]  (Führungsinstrument, das seit Jahren in Betrieben des Militärs eingeführt wird und dessen allmählicher Einsatz im Bereich der zivilen Betriebe vor kurzem wieder aufgenommen wurde), wonach die Löhne nach den Erträgen und anderen Qualitätsmerkmalen berechnet werden. Sein Einsatz hatte eine Lohn- und Gehaltserhöhung von etwa 100 Pesos pro Monat zur Folge (Cubanalisis);  augenblicklich liegt ein Durchschnittsgehalt bei rund 400 Pesos (ONE). Allerdings sind im Zeitraum 2000 – 2007 die Arbeitslöhne um 71% (Chepe I) gestiegen, ohne signifikante Verbesserung der Lebensbedingungen, denn die Lohnerhöhung  wurde aufgefressen von den Preissteigerungen für Elektrizität, Transport, subventionierte Artikel sowie dem Einkauf von unentbehrlichen Gütern auf dem Schwarzmarkt und in den Geschäften in denen in Devisen bezahlt werden muss. Es konnte eigentlich gar nicht anders kommen, wenn man bedenkt, dass in demselben Zeitraum die Produktivität nur um 39,5% gestiegen ist. Das ganze Ausmaß des Problems ist erkennbar in einem Vergleich der Reallöhne, die im Jahr 1989 immerhin 188 Pesos betrugen, während sie sich 2007 auf 45 Pesos belaufen. Das heißt, die Reallöhne müssten auf das Vierfache steigen, um das Niveau von vor 18 Jahren zu erreichen, unter der Voraussetzung, dass es keine neuen Preiserhöhungen gibt. Eine absurde Annahme, wenn die Regierung davon spricht, unentgeltliche Leistungen zu streichen und Subventionen zurück zu fahren. Dazu kommt, dass, selbst wenn es so umfangreiche Lohnerhöhungen geben sollte, diese dann keinen Arbeitsanreiz darstellen, wenn nicht gleichzeitig die Menge der Konsumgüter steigt. Sie würden sonst nämlich nur zu einer Steigerung der Liquidität führen, die schon 2006 um das 4,5fache höher war als 1989.

Der Landwirtschaft kommt eine besondere Aufmerksamkeit zu, denn die Regierung hat die Lebensmittelfrage zu einer Frage der nationalen Sicherheit erklärt, und auf diesem Gebiet mehrere Entscheidungen getroffen:

Mit dem Gesetz Nr. 259 wurde beschlossen, Land an Kooperativen und an Private zu vergeben. Damit soll ein größerer Anteil staatlichen Brachlandes wieder bewirtschaftet werden. Wäre die landwirtschaftlich nutzbare Fläche das Problem, dann müssten seit 2002 enorme Produktionssteigerungen zu verzeichnen sein, damals wurden nämlich 40% der Flächen für den Zuckerrohranbau (bis dahin landwirtschaftliche Schlüsselproduktion) einer anderen landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt. Weit davon entfernt, ist der Lebensmittelimport auf mittlerweile 84% der Grundnahrungsprodukte gestiegen. Und als Krönung des Ganzen kommen die Importe aus den USA, die auf diesem Weg zum fünftgrößten Handelspartner Kubas wurden (www.one.cu). Sorgen bei der Übertragung von landwirtschaftlichen Flächen macht auch die Beschränkung des Nießbrauchsrechtes auf 10 Jahre, ohne Kauf- oder Verlängerungsmöglichkeit nach Ablauf dieses Zeitraums.

Eine weitere wichtige Maßnahme war die Dezentralisierung von Zuständigkeiten des Landwirtschaftsministeriums durch die Übertragung auf die lokalen Behörden. Und zwar sowohl die Zuweisung von Flächen wie auch von Verbrauchsmaterialien. Diese Maßnahme, anscheinend auf jeden Fall attraktiv weil Entscheidungen näher am Produzenten getroffen werden, wurde von der offiziellen Presse als wirksamste Maßnahme gelobt, den Verbrauch der Bauern von Kraftstoff und anderen Mitteln zu kontrollieren (Dimas Castellanos).

Ebenfalls wurde die Anhebung der staatlichen Aufkaufspreise für Agrarprodukte, Fleisch und Milch beschlossen.

Zweifellos werden die bis hier aufgezählten Maßnahmen die Produktion im Allgemeinen und besonders in der Landwirtschaft positiv beeinflussen, aber um nachhaltige Produktionssteigerungen von mehr als 10% zu erzielen, wie es das Land braucht (reale Steigerungen, nicht die, die Kuba seit 2002 verkündet), dann sind substantielle Arbeitsanreize und eine größere Ansammlung von Kapital erforderlich,das heißt, eine Kapitalisierungin höherem Maße. Arbeitsanreize werden nicht ausschließlich geschaffen durch Verknüpfung von Bezahlung und Produktion. Es gibt noch mehr Faktoren, um mit Schwung produktive Kräftefreizusetzen. Einer davon ist das Eigentum an den Produktionsmitteln. Die Erfahrung spricht für sich. 18,5 % der landwirtschaftlichen Flächen ist in der Hand von Privatbauern, die zwei Drittel der Lebensmittel produzieren (Chepe II) und dies mit einer höheren Effizienz tun als die Staatsbetriebe (55% der Flächen) und die so genannten Kooperativen (der Staat bestimmt, was produziert wird und setzt den Kaufpreis fest). Wenn der Staat den Kooperativen die Freiheit gäbe, marktgerecht  zu produzieren und zu verkaufen, das heißt, wenn er ihnen einen wirklichen Kooperativen-Status zugestehen würde, und wenn er eine große Anzahl von Staatsbetrieben in solche Kooperativen umwandeln würde, dann würden die neuen Organisationen zweifellos bessere Ergebnisse erzielen als die Privatbauern. Sie verfügen nämlich über bessere Betriebsmittel und besseres Land als diese. Ähnliches lässt sich von den Industrieunternehmen sagen. Augenblicklich sind sie ausnahmslos Staatsbetriebe, und außer denen mit ausländischer Kapitalbeteiligung sind sie in einem produktivitätsfeindlichen Stillstand versunken.

Was die Kapitalisierung betrifft, so betrug die volkswirtschaftliche Kapitalbildung 1989 in Kuba 25%. Dieser Indikator erreicht im Jahr 2006 nur 13,5%. Das scheint die kubanische Regierung nicht sonderlich zu beunruhigen, die Zahl der Betriebe mit ausländischer Kapitalbeteiligung sank von 403 im Jahr 2002 auf 236 im Jahr 2006. Die Regierung hat ausländische Kapitalbeteiligungen vorzugsweise in eng begrenzten Bereichen zugelassen, wie dem Tourismus, dem Erdöl und dem Bergbau. Kuba ist entkapitalisiert, und solange sich das nicht ändert, können weder die Produktion noch die Produktivität in dem Maß steigen, wie es für das Land nötig ist.

Die Regierung beschränkt nicht nur das ausländische Kapital, sondern sie weigert sich auch, Investitionen von Kubanern zuzulassen. Manche verweisen darauf, dass die Kubaner kein Kapital besitzen, aber dann tun sie so als wüssten sie nicht, dass kleine Familienbetriebe kein großes Anfangskapital brauchen und dass es ein großes Potenzial bei den Auslandskubanern gibt, die einen Teil ihrer Auslandsüberweisungen als Investitionen für ihre Familien einsetzen könnten.

Meiner Ansicht nach lassen die Taten der neuen Regierung die Ziele des Generals erkennen, die er in die Worte „strukturelle und konzeptionelle Veränderungen“ gekleidet hat. Sie könnten zusammengefasst werden als Verknüpfung materieller Interessen mit der Arbeitsleistung, größere Disziplin, bessere Organisation, kooperativer Führungsstil und realistischere Planungen. Ohne Zweifel ist das besser als das, was früher war, aber alles das hat es im Sozialismus schon gegeben. All das kennt man als Realsozialismus und wir wissen alle, wohin das führte.

Und deshalb ist durchaus möglich, dass der General seinen Marsch nicht gestoppt hat, sondern dass genau das sein Marsch ist. Dem Volk -und hierzu zähle ich auch Regierungsmitglieder, Militärs und Intellektuelle – das auf effektive Reformen gehofft hatte, interessiert nicht unbedingt, ob es nun das eine oder das andere war. Es hat die Hoffnung verloren und der General seine wichtigste Schlacht.

Emilio Hernández

Übersetzung Heidrun Wessel

1_/ als Reflexiones del compañero Fidel in einschlägigen Blättern veröffentlicht (zB Granma, Juventud Rebelde)
2_/  wörtlich: unternehmerische Perfektionierung

Quellen

_(Cubanalisis) Yañez, Eugenio/Benemelis, Juan/Arencibia, Antonio “Balance de dos años del gobierno de Raúl Castro: III Parte, Ejercicio del poder” cubanalisis.com
_Mesa Lago, Carmelo “La economía cubana en la encrucijada: Legado de Fidel, debate sobre el cambio y opciones de Raúl” cubanalisis.com
_(Chepe I) Espinosa, Oscar “Nuevo sistema de pago” payolibre.com 
__(II) “Propiedad privada y desarrollo” diariodeamerica.com
_ONE_ Oficina Nacional de Estadística one.cu
_Castellanos, Dimas “Controlar o liberalizar” cubaencuentro.com
_Amor Bravo, Elías “Quitar las puertas al campo” cubaencuentro.com
_Monreal González, Pedro “El problema económico de Cuba” cubaencuentro.com
_Montaner, Carlos Alberto “La parálisis psicológica de Raúl Castro” firmaspress.com
_Hernández Emilio “Los 100 días del General” decub.de