Ein Blick zurück ohne Zorn

Am 10. Dezember 2003 feierte die DeCub ihr 15jähriges Bestehen. Im Vorfeld der Auflösung des sozialistischen Staatenbunds in Europa schloss sich im Dezember 1988 eine Gruppe von Gewerkschaftlern, Drittweltengagierten, Intellektuellen und Grünen zusammen, um in kritischer Solidarität im Respekt vor der Meinung Andersdenkender ein breiteres Spektrum für die Kuba-Bewegung zu gewinnen.

Müde der bis heute ewig gleichen Rituale und Gebetsformeln der „wahren Freunde“ Kubas, die nur das Fäustchen zu recken und „Cuba sí, Yankis no“ zu schreien verstehen, geht es uns um die kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit dem kubanischen Weg zum Sozialismus. Große Teile der Solidaritätsbewegung mit Kuba sind bis heute ein verlängerter Arm der Parolen der kubanischen Außenpolitik und ihrer Mandatsträger. Diese Marionettenfunktion zeigte sich schon auf den Vorstandssitzungen der FG BRD-Kuba in Köln in den 80er Jahren. Was dort besprochen wurde, wussten schon am nächsten Tag die kubanischen Diplomaten in Bonn. Wenn ein kritischer Vortrag in der FG Westberlin – Cuba gehalten wurde, bemühte sich eine kubanische Diplomatin aus der DDR über den Checkpoint Charlie, um für den kubanischen Staatssicherheitsdienst zu berichten.

So nimmt es nicht wunder, dass die Gründung der DeCub im Institut für Völkerfreundschaft (ICAP) in Havanna nicht mit Begeisterung aufgenommen wurde. Das Wort von der Spaltung der Solidarität machte die Runde. Allein dem Einsatz von René Rodríguez Cruz, dem damaligen Präsidenten des ICAP, ist es zu verdanken, dass schließlich eine Absichtserklärung unterzeichnet wurde, bei der es bis heute geblieben ist. Eine Woche lang mussten sich die Vertreter der DeCub im Januar 1989 Funktionärsvorträge anhören, die immer wieder mit derselben Formel endeten: „Die Solidarität muss bedingungslos ohne Wenn und Aber sein.“ Alles andere gilt bis heute als Verrat an der Sache. Ein Jahr später sagte ein kubanischer Diplomat in Bonn: „Wir konnten ja aus Rücksicht auf die DDR nicht anders handeln.“ Aber Gefolgschafts- und Vasallendenken lebten fort.

Karl Marx schrieb in Anlehnung an Hegel im 18ten Brumaire des Louis Napoleon (1852), dass alle historischen Tatsachen sich zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Dieses Gesetz gilt auch für einige Kuba-Freunde der ersten Stunde.  Denn wer sich nach dem Innenminister-Beschluss vom Januar 1972 („Radikalenerlaß“) zur kubanischen Revolution bekannte, bekam große Schwierigkeiten, die bis zum Berufsverbot reichten. Wer dagegen später Kuba in kritischer Solidarität verbunden blieb, Tabubrüche beging und die falschen Freunde hatte, wurde von der anderen Seite als „Verräter“ und „CIA-Agent“ gebrandmarkt. Ein Blick zurück ohne Zorn, aber mit Trauer.

Rituale der Solidarität

„Con Cuba, contra el Imperio“, heißt es in dem Kommuniqué einer Allianz Antiimperialistischer Intellektueller (El País, 26. 7. 2003). Wer kann diese Forderung nicht unterstützen? Aber darf das völkerrechtswidrige Verhalten der USA in so vielen Fällen seit dem 19. Jahrhundert blind machen gegenüber einem historischen Experiment, für das ein Volk seit 45 Jahren auf einer Insel eingesperrt ist. Wen verwundern da noch verzweifelte Ausbruchsversuche? Wir wollen doch Ursache und Wirkung nicht verwechseln!

Worin liegt das Charisma in der Figur eines Mannes, der seit eben so vielen Jahrzehnten seine Machtpotenz als Präsident der Republik, Erster Sekretär der KP, Präsident des Staatsrats, Präsident des Ministerrats und Oberkommandierender der Streitkräfte in die Oktroyierung einer neuen Klassengesellschaft gestellt hat? Nur Queen Victoria, die Königin von England (1837-1901) und Franz Joseph, der Kaiser von Österreich und König von Ungarn (1848-1918), haben länger als 45 Jahre regiert.

Con Cuba, contra el Imperio. Aber mit welchem Kuba? In einem Untergangsszenario von Cuba Sí, der AG der PDS, heißt es: „Die Hoffnung Kuba hat sich erledigt und jede Diskussion hat sich erübrigt, wenn US-Truppen im Namen von Freiheit und Demokratie Streubomben über Havanna, Santiago oder Santa Clara abwerfen, um Kuba in ein Bordell der USA zurückzubomben. Darum geht es, dagegen wehrt sich Kuba, und dafür braucht es vor allem unsere Solidarität, jetzt!“  Misereor und Adveniat locken wenigstens mit der Beschreibung realer Verhältnisse den Menschen den Solidaritäts-Euro aus der Tasche, andere begnügen sich mangels Argumenten mit fiktiven Situationen.

Die Farce der „umfassenden Blockade“

Das kubanische Wirtschaftssystem wurde seit Jahrzehnten aus politischen Gründen von den sozialistischen Ländern künstlich alimentiert und war damit zur Unselbstständigkeit verdammt. Durch die Beschlüsse des COMECON seit 1972 mussten Kuba und Vietnam ihre Rolle als reine Agrarproduzenten erfüllen. Der Bankrott der von der Partei dominierten Planwirtschaft und mixed economy  hat dagegen die US-Regierung nicht erst seit heute eine andere Strategie gegenüber Kuba einschlagen lassen: Wandel durch Annäherung. Sie ist keineswegs neu und originell, hat sich aber auch schon bei anderen gesellschaftlichen Transformationsprozessen bewährt.

Werfen wir einen Blick auf die unmittelbare Gegenwart des pragmatischen Umgangs mit dem Embargo! Im Dezember 2001 autorisierte die nordamerikanische Regierung US-Firmen, Nahrungsmittel und Agrarprodukte nach Kuba nur gegen cash zu verkaufen. Der Transport ist nur auf nordamerikanischen Schiffen erlaubt. Auf kubanischer Seite organisiert die Firma Alimport diesen Handel.

Kuba kaufte seit Ende 2001 allein über 200 000 Tonnen Reis in den USA. Aber selbst Zuckerimporte und Gefriergeflügel stehen auf der kubanischen Wunschliste. Die Lieferungen werden 2004 von Port Manatee, dem fünftgrößten Hafen Floridas ausgehen. Die Gesamtlieferungen belaufen sich seitdem auf über 554 Millionen US-Dollar. Damit sind die USA ein Hauptlieferant von Nahrungsmitteln nach Kuba. Das führte zu einem Besucherboom nordamerikanischer Geschäftsleute und Politiker auf der Karibikinsel. Im Jahre 2002 landeten mehr als 120 nordamerikanische Handelsdelegationen auf der Insel, darunter 4 Senatoren und 25 Abgeordnete des Bundeskongresses, 3 Regierungsgouverneure und Hunderte kleinerer und mittlerer Agrarproduzenten.

Das beunruhigte die traditionellen europäischen, asiatischen und lateinamerikanischen Handelspartner, die bisher keine nordamerikanische Konkurrenz zu befürchten hatten. Nach kubanischen Vorstellungen wird es in Zukunft jedoch nach den Folgen der unilateralen Monopolbeziehungen mit dem Ostblock bei diversifizierten Importhandelspartnern weltweit bleiben.

Verwunderlich ist schon, dass die kubanische Regierung die nordamerikanischen Waren in bar bezahlt, während die europäischen Handelspartner sich mit teilweise langfristigen Kreditzusagen ihre Kontakte erkaufen. Man kann das auf die Haltung der Europäischen Union zurückführen, welche die Handelsbeziehungen mit der Menschenrechtsfrage verknüpft, was wiederum den Business-Men in den USA egal ist.

Nach kubanischer Darstellung seien die Warenimporte aus den USA vor allem wegen der verheerenden Folgen des Hurrikans Michelle im Jahre 2001 notwendig geworden. Der kubanische stellvertretende Wirtschaftsminister Angel Dalmau bezeichnete gegenüber Agence France Press diese Käufe auch als eine Art politischen Akt, um die US-Blockade aufzuweichen. Dieser Testcharakter wurde von  offizieller kubanischer Seite allerdings umgehend korrigiert.

Soziale Errungenschaften und individuelle Menschenrechte

Dieses Begriffspaar wird in der Diskussion oft einander gegenübergestellt, aber es ist unteilbar. Wenn Castro unter der Parole „Sozialismus oder Tod“ sein System als immer noch ungerecht, aber gerechter als den Kapitalismus bezeichnet, muß er sich einer strengeren Bewertung unterziehen. Denn zu jeder sozialistischen Marktwirtschaft gehört eine demokratische Öffnung. Ohne Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit ist jede Planwirtschaft selbst mit kleinen privatwirtschaftlichen Einsprengseln zum Scheitern verurteilt, weil den Menschen die Motivation und die Zukunftsperspektiven fehlen.

Die sozialen und individuellen Menschenrechte werden auch hierzulande täglich verletzt, aber es gibt eine Gegenöffentlichkeit und Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen und sich Gehör zu verschaffen. An dieser mühsam erkämpften Zivilgesellschaft und Zivilcourage mangelt es auf Kuba. Sind die Angst vor der Zukunft oder der letzte Kinderglaube an die sozialen Errungenschaften entscheidend für die Apathie weiter Kreise der Bevölkerung?

Das scheinbar kostenlose Schulsystem und die scheinbar kostenlose medizinische Versorgung werden von der Bevölkerung seit Jahrzehnten durch minimale Hungerlöhne mit indirekten Steuern bezahlt. Die schmalen privatwirtschaftlichen Initiativen werden durch ein willkürlich kalkuliertes Steuersystem gebremst. Die Lebensmittelkarte (libreta) reicht nicht einmal für den halben Monat aus.  Bezugsscheine für Kleider und Schuhe gibt es schon seit vielen Jahren nicht mehr. Der Dollar als Leitwährung hat längst die Macht übernommen, keineswegs gegen den Willen der regierenden Klasse.

Es wäre an der Zeit, daß sich eine solidarische Linke auch mit den Inhalten des kubanischen Bildungssystems auseinandersetzt. Wie kommt es, daß bis heute kritischen Pädagogen Forschungs- und Praktikatätigkeiten an kubanischen Bildungseinrichtungen verwehrt werden? Es ist kein Zufall, daß es auch 29 Jahre nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen noch kein Kulturabkommen zwischen Kuba und Deutschland gibt.

Ist noch etwas verteidigenswert am kubanischen System? Gewinnt nicht gerade der kubanische Versuch eines Weges aus der Unterentwicklung angesichts der zunehmenden Verelendung der „Dritten Welt“, der Experimentierbühne der ehemaligen sozialistischen Länder und der moralischen, politischen und wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus eine neu zu überdenkende Bedeutung? Das sind Fragen, die es kritisch solidarisch zu erörtern gilt.

Solidarität mit Kuba – wozu und mit wem?

Václev Havel, Arpád Göncz und Lech Walesa haben in einer Erklärung vom September 2003 zu ausschließlicher Unterstützung der kubanischen Opposition im In- und Ausland aufgerufen. Diese Einschränkung und Abgrenzung verkennt, daß alle Übergangsprozesse über viele Dialogphasen langsam gereift sind und keine Bevölkerungsgruppe ausgeschlossen haben. Gramsci hat in Heft 6, § 137 der Gefängnishefte zum Begriff der Zivilgesellschaft angemerkt, „dass man unter Staat außer dem Regierungsapparat auch den `privaten´  Hegemonieapparat oder Zivilgesellschaft verstehen muss“. Jeder Staat bestehe aus der politischen und der Zivilgesellschaft.

 In diesem Sinne unterstützen wir alle Kräfte, die für einen friedlichen, basisdemokratischen Übergang innerhalb sozialistischer Gerechtigkeitskonzepte in Kuba eintreten. Es macht uns betroffen, dass die kubanische Nomenklatura alle Versuche der Diskussion über Demokratie, Menschenrechte und Zivilgesellschaft im Zusammenhang mit Übergangsprozessen als konterrevolutionär und quintacolumnismo ablehnt.

Nicht ohne Grund setzt Gramsci bei seiner Definition der Zivilgesellschaft bei dem Verhältnis zwischen zivilgesellschaftlicher Hegemonie und Gewaltenteilung an. Alle drei Gewalten – Parlament, Justiz, Hegemonie – sind auch Organe der politischen Hegemonie, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. In Gramscis Gefängnisheft 6, § 65 ist der Weg zu einer Zivilgesellschaft vorgezeichnet: „in dieser Gesellschaft verschwimmt die herrschende Partei nicht organisch mit der Regierung, sondern ist Instrument für den Übergang von der zivil-politischen Gesellschaft zur `regulierten Gesellschaft’, insofern sie beide in sich aufnimmt, um sie aufzuheben.“

Das heißt im Klartext: Ich wünschte mir in Kuba eines Tages keine alles abnickende Einheitsgewerkschaft mehr, statt der Schnüffelorganisation Komitees zur Verteidigung der Revolution Nachbarschaftskomitees, die sich selbst konstituieren, keine Brigadas de Respuesta Rápida, paramilärische Schlägertrupps zur Einschüchterung der Bevölkerung, keine Actos de Repudio (verordnete Schreiorgien vor den Häusern von „Verrätern“), keine „Märsche des kämpfenden Volkes“, keinen Frauenverband mit obligatorischer Mitgliedschaft, kurzum keine von oben verordneten Massenorganisationen mit ihren Aufstiegsritualen, Gruppenzwängen und Abgrenzungsriten.

Fest steht jedoch, dass alle Veränderungen von der breiten Masse der Bevölkerung ausgehen müssen. Auf den Leipziger Montagsdemonstrationen skandierten die Massen im Oktober 1989: „Wir sind das Volk.“  Die Stärkung und der Ausbau der menschlichen Beziehungen im Sinne der Zivilgesellschaft sind eine wichtige Grundlage für das Überleben des kubanischen Volkes in Würde. Neben der kritischen Solidarität im institutionellen Rahmen muss die individuelle Solidarität ihren Platz haben. Mit den fortschrittlichen Teilen der Exilkubaner muss der Dialog verstärkt gesucht, Möglichkeiten zu Gespräch und Vermittlung müssen immer wieder geduldig ausgelotet werden. Es darf nicht darum gehen, Mythen und Durchhalteparolen zu verstärken, sondern Dialog ist gefragt.

Solidarität ist keine Einbahnstraße

Gerade die deutsche Bevölkerung ist der kubanischen zu Dankbarkeit und Hilfe in traditioneller Freundschaft verbunden. Fast 700 kubanische Freiwillige haben im Spanischen Bürgerkrieg und teilweise im Untergrund in Frankreich gegen den Hitler-Faschismus gekämpft. Einige von ihnen sind in deutschen Konzentrationslagern ums Leben gekommen. Das kubanische Volk hat während des Dritten Reichs über 15 000 Flüchtlingen aus ganz Europa, darunter auch vielen jüdischen und deutschen Emigranten, Zuflucht und Unterstützung gewährt.

 Martin Franzbach