Kleiner Streifzug durch die kubanische Gegenwartsliteratur in deutschen Übersetzungen (2002/ 2003)

Der  „politische Dinosaurier“ Jorge Luis Borges hat zur Situation der Exilschriftsteller einmal gesagt: „Ich habe nicht deine Nähe erlangt, mein Vaterland, aber ich habe schon deine Sterne.“ Das gilt auch für zwei bedeutende kubanische Romanciers: Reinaldo Arenas, gestorben 1990 im Exil in New York und Jesús Díaz, 2002 verstorben im Madrider Exil. Beide Autoren, bis heute totgeschwiegen auf der Insel, haben wesentlich zum Ansehen der kubanischen Literatur im Ausland beigetragen.

 Ein Klassiker sind  Arenas´  postum erschienene Memoiren Bevor es Nacht wird  (Antes que anochezca, 1992, verfasst zwischen 1987 und 1990). Das Buch ist jetzt bei dtv in einer erschwinglichen Taschenbuchausgabe für 11, 50 Euro erhältlich. Der mehrdeutige Titel bezieht sich einmal auf das Versteck im Parque Lenin in Havanna, in demder schwule Arenas sich 1970 auf der Flucht vor den Tugendwächtern der Revolution 45 Tage lang versteckt hielt, zum anderen auf den bevorstehenden Tod durch Aids, dem Arenas kurz vor Weihnachten 1990 durch Selbstmord zuvorkam. Es ist tragisch, daß der Autor seinen Freiheitsdrang weder in der inselkubanischen geschlossenen Gesellschaft noch in der scheinbar libertären nordamerikanischen Konsum-Ikone erfüllt sah. Ein Buch der verzweifelten Liebe zur verlorenen Heimat.

 Als  Taschenbuch bei Piper (8, 90 Euro) ist jetzt auch  Jesús Díaz’  Roman  Erzähl mir von Kuba  (Dime algo sobre Cuba, 1998) im Handel. Mit dem kubanischen Zahnarzt Stalin Martínez hat Díaz so etwas wie einen Prototyp des Kubaners Ende des 20. Jahrhunderts geschaffen. Mehrfach freiwillig und unfreiwillig hin- und hergetrieben zwischen Kuba, den USA und Mexiko, endet der Roman mit einem offenen Schluss, aber der Utopie einer friedlichen Zukunft für seine Heimat.

 Das Thema der Emigration – so schicksalhaft für die Generation von J. Díaz – steht auch im Mittelpunkt des letzten Romans des Kubaners: Die vier Fluchten von Manuel  (2002), aber wir werden wohl noch eine Weile warten müssen, bis der Text auf Deutsch erscheint.

 Die Exilliteratur wird von Mayra Montero und Zoé Valdés abgerundet.  Montero,  die in Puerto Rico lebt, schmückt in ihrem ersten Roman  Wo Aida Caruso fand  (Como un mensajero tuyo, 1998), Taschenbuch Knaur (7, 90 Euro)  eine halbhistorische Begebenheit aus dem Havanna der Belle Epoque fantasievoll aus. Eine interkulturelle Liebesgeschichte, die mit Betrachtungen über den Tod endet.

 Die Kultautorin  Zoé  Valdés, die in Paris zu Hause ist, hat mit ihren Serientexten im deutschsprachigen Raum bisher wenig Erfolg gehabt, wenn man von ihrem ironisch-witzigen Abschied von Havanna in dem Roman  Das tägliche Nichts  (La nada cotidiana, 1995) absieht. Der Ammann-Verlag in Zürich traut sich trotzdem an die Publikation von Café Nostalgia (1997), eine weitschweifige innerkubanische Liebesgeschichte, die hauptsächlich in Miami spielt. Noch schlechter ist freilich der neue Abenteuerroman der Autorin, eine pseudohistorische Piratinnen-Story: Seelöwinnen (Lobas de mar, 2003).

 Die inselkubanische Prosaliteratur ist im deutschsprachigen Bereich durch Abilio Estévez, Abel Prieto und Pedro Juan Gutiérrez vertreten.  Abilio  Estévez,  der auch ein bedeutender Dramatiker ist, lässt seinen Roman Dein ist das Reich  (Tuyo es el reino, 1997)  am  Vorabend der siegreichen Revolution auf einer Finca in der Nähe von Havanna spielen. Der Einzug der Revolutionäre beendet ein teils traumhaftes Klassenszenario. Als Luchterhand-Taschenbuch für 11, 50 Euro angezeigt.

 Der Romanerstling des derzeitigen kubanischen Kultusministers  Abel E. PrietoDie  fliegende  Katze  (El vuelo del gato, 1999) ist im Verlag Hainholz (Göttingen) erschienen (19, 50 Euro). Es ist eine stark autobiografische Generationenrevue der ersten beiden Revolutionsjahrzehnte, eher Testimonio als Fiktion.

 Die Erfolge des internationalen Skandalautors  Pedro Juan Gutiérrez, auch als „karibischer Bukowski“ bezeichnet,  mit seinem „schmutzigen Realismus“ gehören eher ins Reich der Literatursoziologen. Die  Schmutzige Havanna Trilogie  (Trilogía sucia de La Habana, 1998)  besteht aus drei Erzähltexten, in denen Gewalt, Sex, Musik und Rum geschickt für Voyeure gemixt sind. Als literatura light  mit dem Hunger als Triebfeder für das Verhalten der Personen, in deftiger Umgangssprache abgefaßt, nutzt der Autor seinen kurzlebigen Boom. Immerhin hat der einstmals angesehene Hoffmann & Campe Verlag in Hamburg sich dieser Trilogie angenommen (20,. 90 Euro), die in gekürzter Fassung, gelesen von Stephan Benson, auch als Hörbuch (22, 90 Euro) erhältlich ist.

 Bescheidener sind die Erfolge der kubanischen Gegenwartslyrik in jüngster Zeit. Der bedeutendste Lyriker des Landes, Raúl Rivero, der auch als Haupt der „unabhängigen Journalisten“, im April 2003 zu 20 Jahren verurteilt wurde, soll mit einer Auswahl seiner Gedichte und Presseprosa im nächsten Jahre in einem deutschsprachigen Verlag erscheinen. Einzelausgaben von Lyrikern sind ohnehin eine Rarität. Allenfalls werden Anthologien publiziert.

 Trotzdem hat sich ein kleiner deutscher Verlag an eine Individualausgabe gewagt. Der Verlag Axel Schönberger in Frankfurt hat eine zweisprachige Anthologie von 52 Gedichten des inselkubanischen Lyrikers  Carlos  Valerino  veröffentlicht, der bis Juli 2004 für Lesungen zur Verfügung steht:  Der Stein  des  Sisyphos/  La  piedra de  Sísifo  (2002, 12  Euros). Gestalten der antiken Mythologie gewinnen durch Bezug auf die kubanische Gegenwart eine überraschende Schlüsselfunktion. Zwei der Gedichte sind im Folgenden abgedruckt. Übersetzung, Vorwort und Anmerkungen sind vom Verfasser dieser Sammelbesprechung,

Martin Franzbach.