Yoani Sanchez kommentiert

Den Fall der Mauer hat die offizielle kubanische Presse noch nicht publik gemacht

Veröffentlicht am November 12. 2020 von dieterschubert

Ich habe einen Freund, der vom Fall der Berliner Mauer erst im Rahmen einer Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei erfahren hat, in einem staatlichen Institut, in dem er damals arbeitete. In der offiziellen Presse las man nur eine kurze Mitteilung auf inneren Zeitungsseiten, die über die „Öffnung der Grenze der DDR“ informierten, dies aber ohne Einzelheiten zu nennen und ohne von den tief greifenden politischen Auswirkungen zu berichten. In den Wochen nach dem 9.November 1989 war der Fall der Mauer nur einigen Auserwählten bekannt, aber sogar an die gelangte die Nachricht vielfach verfälscht und geschminkt.

Heute, 31 Jahre später, ist von der Berliner Mauer eine Narbe geblieben, die man auf dem Asphalt der Stadt noch sehen kann. Einige Mauerteile sind zur Erinnerung „in situ“ erhalten geblieben, und es gibt eine Fülle von Zeugnissen, Analysen und Recherchen zu diesen Tagen, die das Gesicht Europas und das der übrigen Welt veränderten. Aber die starrköpfige offizielle kubanische Presse verheimlicht noch immer dieses Geschehen und versucht, den Gedenktag zu vermeiden. Es überrascht daher nicht, dass die Granma in diesen Tagen dem Jahrestag der russischen Oktoberrevolution Raum gegeben hat und das Ende des „sozialistischen Bruderstaats“, der DDR, schlichtweg vergaß.

 Der Castrismus hat stets geglaubt, dass man mit Worten die Realität ändern kann, indem man sie mit Parolen und Schweigen umgibt. „Wenn man etwas nicht erwähnt, dann existiert es nicht“, scheint eine verlegerische und journalistische Maxime für Medien zu sein, die von der Kommunistischen Partei kontrolliert werden. So, als ob es gelingen könnte, die Protagonisten, die Anekdoten und die Auswirkungen eines Geschehens zu löschen, indem man es verschweigt oder unter den Teppich kehrt. Unter dieser Prämisse haben die nationalen Zeitungen bis heute nicht über die Verbrechen von Stalin gesprochen, nicht über die Massaker von Pol Pot berichtet und auch nicht die Ereignisse auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ erwähnt.

Deswegen blättern Jahr für Jahr viele Kubaner in den nationalen Zeitungen, auf der Suche nach einem Hinweis zum Fall der Berliner Mauer. Sie testen damit, wie intakt das informelle Veto zu diesem Ereignis noch ist und wie wenig der offizielle Journalismus in drei Jahrzehnten voran gekommen ist. In jedem Novembermonat, seit jenem weitzurückliegen Jahr 1989, stellen wir ein ums andere Mal fest, dass der Eiserne Vorhang der Zensur auf dieser Insel noch „in situ“ ist.

Übersetzung: Dieter Schubert

Artikel aus: https://generacionyde.wordpress.com/2020/11/12/den-fall-der-mauer-hat-die-offizielle-kubanische-presse-noch-nicht-publik-gemacht/