Kuba im Jahr 2021

Unter diesem Titel zähle ich üblicherweise die meiner Meinung nach wichtigsten Ereignisse des Jahres auf. Aber etwas Beispielloses kennzeichnet diese Zeit. Am 11. Juli (11j) demonstrierten spontan, ohne dass eine Organisation dazu aufgerufen hatte, Tausende von Bürgern, meist junge Leute, in mehr als 50 Städten Kubas, forderten Freiheit und erklärten, keine Angst zu haben. In den 62 Jahren sozialistischer Regierung war nichts Ähnliches geschehen, nicht einmal in den Diktaturen Machados und Batistas, in den 30er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Aus diesen Gründen, möchte ich nachfolgend die Ursachen und Auswirkungen dieser Ereignisse analysieren. 

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Die Ursachen

Die Ursachen lagen nach Angaben der kubanischen Regierung in der Wirtschaftskrise, unter der das Land infolge der Einschränkungen des Tourismus angesichts der Coronavirus-Epidemie in der Welt und im Land leidet, verschärft durch die „Blockade“ und der Mitwirkung der vom Imperialismus bezahlten Söldner. Lassen Sie uns diese Erklärungen im Detail analysieren:

Sicherlich hat sich die Wirtschaft in diesem Jahr verschlechtert. Im ersten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 13,9%. Im zweiten und dritten Quartal war kein Rückgang zu verzeichnen. Das BIP sank bis zum Monat September um 1,2 % im Vergleich zum Vorjahr, aber im Jahr 2020 zeigte sich ein Rückgang von 10,9 %, und wenn man hinzufügt, dass der Rückgang 2019 0,2 % erreichte, kann der Schluss gezogen werden, dass die Rezession bereits drei Jahre andauert und die Pandemie ist daher kein ausreichender Rechtfertigungsgrund. Obwohl die Pandemie den internationalen Tourismus eingeschränkt hat, muss daran erinnert werden, dass das Touristenaufkommen bereits seit 2019 zurückgegangen ist, also ohne die Pandemie. In 2019 besuchten 436.352 Touristen weniger Kuba im Vergleich zum Vorjahr. Auffallend ist, dass sich die Pandemie aufgrund der unterschiedlichen epidemiologischen Situation in anderen Ländern der Karibik wie der Dominikanischen Republik, Panama, Jamaika und Costa Rica nicht so negativ auf den Tourismus ausgewirkt hat wie in Kuba. Während in den oben genannten Ländern früh mit der Impfung der Bevölkerung begonnen wurde, weigerte sich die kubanische Regierung, zertifizierte und kostenlose Impfstoffe von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu erhalten, noch kaufte sie solche aus den verbündeten Ländern Russland oder China. Stattdessen beschloss sie, einheimische Impfstoffe zu entwickeln, die seit Ende April eingesetzt werden, Impfstoffe, die bisher kein WHO-Zertifikat erhalten haben. Im Juli war Kuba das Land mit der höchsten Ansteckungsrate in Amerika und sein Gesundheitssystem brach zusammen. Im ersten Halbjahr des laufenden Jahres gaben die Regierungsstatistiken an, dass der Sektor für öffentliche Gesundheit und Sozialhilfe 0,6% betrug ,während 45% der staatlichen Investitionen in Immobilien, hauptsächlich im Hotelbau, stattfanden. Auch wenn die Regierung beteuert, dass die Pandemie den Niedergang der Wirtschaft verursacht hat, trägt sie doch selbst einen großen Teil der Verantwortung dafür.

Die Wirtschaftsleistung lässt sich ganz konkret am Verbrauch der Bevölkerung aufzeigen. Zwischen September 2020 und September 2021 sank die Produktion von Schweinefleisch um 35%, die von Frischmilch um 23% und von Bohnen um 15%. Als einziger Bereich der Lebensmittel stieg das Angebot an Geflügelfleisch, welches größtenteils von den USA geliefert wurde. Bis Mai verdoppelten sich die Importe im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Damit kann die „USA-Blockade“ schwerlich als Grund herangezogen werden, welche von der Regierung auch für die Reduzierung der Auslandsüberweisungen verantwortlich gemacht wird. Diese stellen die zweitgrößte Einnahmequelle in Devisen dar, nach den Einsätzen von kubanischen Ärzten im Ausland. Tatsächlich fiel in den ersten acht Monaten dieses Jahres die Höhe der Überweisungen aus dem Ausland um 70 %. Das ist größtenteils auf das Verbot der vorherigen US-Regierung zurückzuführen, die Überweisungen über das kubanische Militär durchzuführen. Aus diesem Grund verlies „Western Union“ die Insel. Die Geldüberweisungen könnten weiterhin fließen, wenn der Abwicklung durch eine private oder staatliche Entität übernommen würde. Das wurde bis jetzt durch die Militärs unterbunden.

Ende Juni ereignete sich im größten Elektrizitätswerk Kubas eine Havarie. Aus diesem Grund wurden Stromausfälle bis zu 5 oder mehr Stunden täglich  angekündigt. Sonderbarerweise gehen in Kuba Elektrizitätswerke kaputt oder werden repariert, wenn die Versorgung mit Treibstoffen knapp wird. In diesem Fall bewahrheitet es sich ebenfalls, denn die Lieferung von Petroleum aus Venezuela wurde stark reduziert, zumindest im ersten Halbjahr.

Die Regierung beschuldigte die Wirtschaft wegen der Verärgerung in der Bevölkerung, die den Ereignissen vom 11j voranging, so als ob sie keinerlei Verantwortung für die Ökonomie und die sie beeinträchtigenden Maßnahmen trüge. Am 1. Januar wurde der „Ordnungsauftrag“ (Tarea de Ordenamiento) in Kraft gesetzt. Dieser besteht in der gleichzeitigen Veränderung von Gehältern und Renten sowie der Großhandels- und Einzelhandelspreise und dem Versuch, das System der zwei Währungen zu beenden. Der letzte Punkt bezieht sich darauf, dass die zweite Währung, genannt CUC, aus der Zirkulation genommen wurde. Dennoch wurde die doppelte Währung nicht beendet, weil in den Geschäften in denen die knappen Produkte angeboten werden, nicht mehr in Devisen als Bargeld sondern nur noch mit der ominösen Bankkarte bezahlt werden kann, die auf ein zuvor anzulegendes Bankkonto in Devisen zugreift. Es kann als Veräppeln der Leute gewertet werden. Diese vorgenommenen Veränderungen in Einkommen und Ausgaben der Bevölkerung mit dem Ziel, die Produktion mit verbesserten Löhnen anzuregen, endeten in einem wirtschaftlichen Debakel und führten zu einer anscheinend unkontrollierbaren Inflation. Nach den Erklärungen der Regierung vom 30. Oktober beträgt die Inflation auf dem Schwarzmarkt 6.900 %. Das bewirkte eine Preissteigerung bei Waren und Dienstleistungen, welche die Lohnerhöhungen wesentlich überstieg. Andererseits verfünffachte sich mit dem „Ordnungsauftrag“ das Lohnaufkommen. Damit verbunden sind ausufernde Ausgaben für öffentliche Dienste und ein Defizit im Staatshaushalt, welches für lange Zeit die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen wird. Als wenn alle diese Maßnahmen nicht schon genügten, um die Bevölkerung zu verärgern, beschloss die Regierung am 21. Juni die Bankguthaben in Dollar zeitweilig einzufrieren. Als Argument diente die Aussage, dass es mit der Einlage von in Kuba gesammelten Dollar auf Auslandskonten Schwierigkeiten gäbe. Allerdings führte das dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung ihre Dollar auf diese Konten einzahlte, was nach Einschätzungen die in der kubanischen Bank gelagerten Dollar um 50 Millionen erhöhten. Das führte zu einer Verminderung von Dollar im Umlauf. Ende November wurde ein Dollar auf dem Schwarzmarkt zu 68 kubanischen Pesos gehandelt. Auch das bewirkt, dass die Kaufkraft der Bevölkerung geringer wird.

An den beschriebenen Daten ist zu erkennen, dass die wirtschaftlichen Probleme nicht von konjunkturellen Faktoren ausgelöst werden, sondern von der Unfähigkeit der Regierung, adäquate Lösungen zu herbeizuführen und das schon seit sechs Jahrzehnten.  Die letzte Zuckerrohrernte erbrachte weniger als eine Million Tonnen Zucker und stellt damit die ehemals wichtigste Industrie des Landes auf das Niveau zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Zahl an Rindern, die im Jahr 1959 die fünf Millionen überschritt, verringerte sich auf heute circa 3,7 Millionen aber seit 1959 verdoppelte sich praktisch die Bevölkerung.

Es gibt aber ein Element, das die Regierung nicht bedachte als sie den Ausbruch am 11j rechtfertigte. Im November letzten Jahres erklärte sich eine Gruppe Jugendlicher in Hungerstreik, um die Freilassung eines regimekritischen Sängers aus einer Wohnung in San Isidro, einem armen Viertel Havannas, zu fordern. Die Polizei brach die Wohnung auf und nahm die Streikenden fest. Das wiederum bewirkte, dass etwa hundert junge Künstler und Schriftsteller das Recht auf freie Meinungsäußerungen einforderten. Es war der Beginn des Bruchs der geistigen Eliten mit dem Regime. Ebenfalls solidarisch waren kubanische Musiker von innerhalb und außerhalb der Insel indem sie das Lied „Patria y Vida“ (Vaterland und Leben) schufen, das jetzt die Hymne des Kampfes und der Hoffnung darstellt. Allerdings ist der auf Kuba lebende Musiker in Haft. Mut ist ansteckend.

Die Auswirkungen

Die Regierung reagierte unmittelbar. Miguel Diaz-Canel, der Stellvertreter von General Raul Castro in der Kommunistischen Partei Kubas und als Präsident der Republik, erschien sofort in San Antonio des los Baños, wo die ersten Demonstrationen stattfanden. Dort wurde er von den Demonstranten ausgebuht. Als Nächstes rief  Diaz-Canel mit den Worten: „wir sind zu allem bereit, der Befehl ist erteilt“ im Fernsehen die Revolutionäre und Kommunisten auf, den Demonstrierenden entgegen zu treten. Die anfangs nicht aggressive Polizei begann nach diesem Aufruf Demonstranten zu bedrängen und zu verhaften. Das ist in verschiedenen Videos zu sehen. Am 12. Und 13. Juli kam es auch in anderen Orten zu Demonstrationen. In Havannas Stadtviertel La Güinera starb ein junger Demonstrant durch einen Schuss in den Rücken. Der verantwortliche Polizist wurde bereits freigesprochen. Im ganzen Land wurde der Zugang zum Internet eingeschränkt. Das hatte es ja schon während der Unterdrückung der San Isidro – Proteste  und der jungen Künstler gegeben. In Verbindung mit den Protesten 11j wurden 1.292 Personen festgenommen. Von diesen befinden sich im Augenblick noch 673 in Haft. Darunter sind 45 Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren. Drei der Verhafteten wurde ein Prozess gemacht wobei einer freigelassen und die anderen Beiden zu 1 Jahr Zwangsarbeit verurteilt  wurden. Ohne Teilnahme an den Demonstrationen wurden bekannte Dissidenten bereits beim Verlassen ihrer Wohnung verhaftet, darunter befinden sich Luis Manuel Otero Alcantara, José Daniel Ferrer und Félix Navarro.

Aber parallel zur Repression begann die Regierung auch lang erhoffte Maßnahmen zu einzuführen:

  • 14.07. Der zollfreie private Import von Nahrungsmitteln und Hygieneprodukten wird angekündigt. Am 27.04. hatten sich diesbezüglich bereits Auslands-Kubaner mit einer Petition an Diaz-Canel gewandt. Diese wurde aber als Provokation abgewiesen.
  • 20.07. Garagenverkäufe werden wieder erlaubt, das bedeutet Straßenverkauf von Kleidung und anderen Dingen. Zum gleichen Zeitpunkt erhielten 300.000 Kubaner, die ohne Dokumente in Havanna leben, die Erlaubnis, subventionierte Lebensmittel auf Bezugsschein kaufen zu können. Das war ihnen zuvor versagt. Weiterhin wurden vom Ausland gespendete Lebensmittel kostenlos verteilt. Das war neu, denn zuvor wurden diese Spenden an die Bevölkerung verkauft.
  • 30.07. Die Oberpreisgrenze für verschiedene landwirtschaftliche Produkte auf den freien Märkten wurde aufgehoben, denn diese hatte das Angebot verringert.
  • 19.08. Es wurde die Gründung kleiner und mittlerer privater Firmen erlaubt. Das war seit Jahren bereits angekündigt.

Die oben aufgelisteten Maßnahmen senden zwei Signale aus:  1. Die Regierung versteht, dass die Rebellion wegen konkreter Probleme entstand und nicht von ausländischen subversiven Mächten angezettelt war. 2. Das Volk hat verstanden, dass die Regierung nur unter  Druck handelt.

Die internationalen Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Russland, Venezuela und Mexico unterstützten in ihren Erklärungen die kubanische Regierung. Die von Nicaragua und Mexico wurden von den jeweiligen Präsidenten abgegeben. Zusammen mit den Solidaritätsbekundungen wurden Lebensmittel und Medikamente geschickt.

Die größte Reaktion kam jedoch nicht von den oben erwähnten Staaten. Die USA und weitere 20 Länder verurteilten in einer gemeinsamen Erklärung die Verhaftungen und massiven Festnahmen der Demonstranten. Die kubanische Regierung hatte große Hoffnungen in die neue Regierung der USA gesetzt, da der jetzige Präsident Joe Biden eine politische Annäherung an die Insel versprochen hatte. Im Nachgang zu den Ereignissen vom 11j drohte der Präsident allerdings mit schärferen Sanktionen gegen Havanna wenn nicht drastische Veränderungen in Kuba erfolgen würden.

Die Demonstrationen des 11j motivierten kubanische Intellektuelle innerhalb und außerhalb des Landes, sich zu einer Gruppe, genannt „Archipiélago“ zusammen zu schließen. Diese kündigte Demonstrationen an und forderte die Freilassung der Verhafteten und das Recht auf „Recht zu haben“. Die Demonstrationen konnten nicht stattfinden, denn zum ursprünglich geplanten Datum am 20. November kündigte die Regierung eine militärische Bereitmachung für das ganze Land an. Auch am neuen Datum, dem 15. November, waren Demonstrationen verhindert worden, indem Menschenaufläufe vor den Wohnungen organisiert, Aktivisten und unabhängige Reporter kurzfristig festgenommen sowie in den offiziellen Medien ein Klima der Angst verbreitet wurden. Nicht verhindert werden konnte, dass in mehr als einhundert Städten der Welt sich dort ansässige Kubanerinnen und Kubaner versammelten und ihre Unterstützung für ihre Landsleute ausdrückten.

Den größten Effekt durch den 11j kann man allerdings in der Mentalität der Kubaner beobachten. Die von den Demonstranten vorgetragenen Losungen „Freiheit“ und „Wir haben keine Angst“ haben in vielen die Gewissheit wachsen lassen, dass die einzige wahre Lösung für das Land in der Freiheit der Bürger auf allen Ebenen besteht und dafür der Diktatur wirksam entgegen getreten werden muss. Künstler und Intellektuelle, die bis gestern das Regime verteidigten und zur Willkür und Missbrauch schwiegen, haben heute ihre Stimme  vereint, um die Unterdrückung zu verurteilen. Auch aus dem Ausland beteiligten sich wichtige Personen. Unlängst unterschrieben mehr als 300 Persönlichkeiten aus der Kultur einen Aufruf, in dem die kubanische Regierung um die Beendigung der Unterdrückung und den Respekt vor der Meinungsfreiheit aufgefordert wird.

Die Regierung hat die Zurückweisung der Bürger und die internationale Isolierung gespürt und beschlossen, den Druck zu verringern. Sie weiß, dass die Dissidenten und Demonstranten  nicht jahrelang eingesperrt werden können und übt Druck aus, dass diese Kuba verlassen. Auch die wird Bevölkerung ermutigt, sich anderswo in der Welt niederzulassen.  Die Regierung von Nicaragua kooperierte, in dem sie die Visapflicht für Kubaner abschaffte mit dem Ziel, dass möglichst viel sich auf den gefährlichen Weg in die USA aufmachen.

Der 11j kann der Anfang vom Ende sein.

Emilio Hernández

Quellen:

Falta de transparencia financiera: el oscuro túnel del lavado de dinero en Cuba | DIARIO DE CUBA

El Gobierno cubano, entre el delirio y la maldad | DIARIO DE CUBA

El milagro cubano o cómo, sin crecer, se detuvo el decrecimiento de la economía | DIARIO DE CUBA

La llegada de turistas a Cuba en lo que va de 2021 se reduce un 94% | DIARIO DE CUBA

Piden hasta ocho años de prisión a manifestantes del 11J (cubanet.org)

Vienen apagones de cinco horas en toda Cuba | DIARIO DE CUBA

Cuba en el Día Internacional de los Derechos Humanos: los escandalosos números de la represión del 11J | DIARIO DE CUBA